Liebes-Aus im Motel Paradise

Dieser Mann hat Probleme: auf der Flucht vor einem Vater, dem er die Tochter entführt hat, versteckt er sich mit seiner jungen Freundin seit 9 ½ Wochen in einem zwielichtigen Motel. Eine unfein abgelegte Geliebte ist hinter ihm her und – das macht es besonders schwer – sie hat eine kleine hübsche Tochter von ihm. Seine neue Flamme, ein bisschen konservativ, will dazu um jeden Preis geheiratet werden. Das kann nicht gut ausgehen. "Wie weit ist es noch?", möchte man fragen, wenn sich das Setting des Abends vor dem Zuschauerauge aufblättert. Aber dass dann doch alles ganz anders kommt, ist der Verdienst eines jungen Regisseurs, der sich einfach nicht damit zufrieden geben mag, dass alles schon immer so war. Bei Lessing. Den Sampsons.

Auf einer leergefegten Bühne prangt eine Leuchtstoffreklame, die schon bessere Zeiten gesehen hat: nur noch das Wort Motel ist lesbar, "Paradise" leuchtet nicht mehr. Melancholische schlecht abgemischte Klaviermusik schwappt zuerst im Zuschauerraum hoch, um dann blechern in einem Kofferradio auf einem Nachttisch wieder aufzutauchen und so den Blick auf die Figuren inmitten vom kargen Mobiliar mit Retro-schick heran zu zoomen.

Vergebung üben

Die stehen erst einmal wie haltlos herum und haben keine andere Wahl, als sich direkt ans Publikum zu wenden. Was sie verhandeln ist merkwürdig abgeschnitten von jedem Alltag, Beruf, Welt. Es geht um Gefühle. Mellefont ist ratlos, denn er hat plötzlich welche. Der Vater der Braut in spe, Sir William Sampson (Joachim Berger), schwört anders als von ihm erwartet nicht Rache, sondern übt Vergebung. Zwischen den beiden Männern eine junge Miss Sara, die sich mit Haut und Haar Mellefont hingegeben hat, und doch den Affront gegen den geliebten Vater nicht verkraften kann, den sie verlässt, als sie mit Mellefont durchbrennt.

Ronny Jakubaschk behandelt diese Variationen der Liebe wie einen Exoten im Wohnzimmer. Mit einem Grundtenor von Faszination nähert er sich den schillernden wechselnden Farben und Facetten wie etwas, von dem man schon gehört hat, dass es das gibt (oder gegeben hat), aber noch nie leibhaftig gesehen hat. Bernhard Glose als Mellefont windet sich, fahrig, unentschieden, im Leben immer unterwegs gewesen und zeigt einen Charakter, der sich von seinem früheren Lotterleben und schlechten Gewohnheiten nicht lösen kann und will.

Liebe neben Lüge

Er lügt sich um Kopf und Kragen, nur um irgendwie Aufschub vor der bürgerlichen Ehehölle zu erlangen. Johanna Freyja Iacono-Sembritzki dekliniert Liebesarten wie eine Musterschülerin im Lateinunterricht. Sehr früh macht sie klar, dass die Wahl des Rock'n'Rollers Mellefont vor allem ein Akt der Emanzipation von ihrem Über-Vater ist. Mellefont hält sie sich mal wie ein Raubtier mit den Spitzen von Stuhlbeinen vom Hals, um ihn dann als ersten Zuhörer ihrer Träume brav sitzend zu inszenieren. Mit einem Betttuch um die Schultern übt sie "Ja, ich will" zu sagen.

Wenn ihr die Ex-Geliebte als wohlwollende Verwandte vorgestellt wird, begibt sie sich bei klarem Verstand in das perfide Lügengestrick. Als sie ihrem Vater versucht zu antworten, der ihr so gar nicht böse sein, sondern alles verzeihen will, zerknüllt sie wie ein pubertierender Teenager nicht Whatsapp-Messages sondern einen Briefbogen nach dem anderen vor sich auf dem schäbigen Motelzimmerboden.

Einer der Höhepunkte des Abends ist die Wiederbegegnung zwischen Mellefont und seiner Ex-Geliebten Marwood. Linda Riebau macht aus ihr eine kämpferische Frau, die bereit ist einen unvorteilhaften Deal auszuhandeln und sogar die jüngere Geliebte in einer Ménage-à-trois neben sich zu dulden. In einer großartig schmutzigen verbalen wie körperlichen Rangelei um das Sorgerecht der gemeinsamen Tochter Bella blitzt eine gleichberechtigte Leidenschaft zwischen den beiden auf, die Mellefont in arge Bedrängnis bringt und dem Stück einen Spannungsaufschwung gibt, der den Ausgang völlig offen lässt. Leider ist dann der große Showdown zwischen Mellefont, Marwood und Sara seltsam faserig, ohne Wucht oder Brisanz fast parodistisch gespielt. Warum bloß?

Familien-Selfie

So aber wird das Paradise Motel zu einer Art Zwischenreich, einem Hades der Liebenden. Es gelingt Jakubaschk und seinem kraftvollen Ensemble von Beginn an die Originalsprache mit ihrem förmlichen "Sie" zwischen Bettgenossen und den "Itzts" und "Er kömmts", die die Schauspieler mal provokativ mal liebevoll vor sich ausstellen, ganz heutig und griffig zu machen. Und während die Lilienthals und Bechtholfs oder Haußmanns gerade mal wieder gegeneinander in den medialen Ring gestiegen sind, um die mögliche Tiefenschärfe der Klassiker auszuloten, schafft es Jakubaschk ganz leichtfüßig dem über 250 Jahre alten Gefühls-Kosmos Modernität und Kernigkeit zu verschaffen. Am Ende posieren alle für ein Selfie als glückliche "Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute"-Patchwork-Familie. Das ist fast schlimmer als die Toten des Originals.

nachtkritik

 

Für 49,95 die Nacht gibt es Cable TV, Phone, Aircondition und Pool - alles Dinge, die ein Wirtshaus zu Lessings Zeiten kaum kannte. Aber auch dieses "Paradise Motel" im Irgendwo ist nicht viel besser als die Absteige, in der der gutaussehende Mellefont und "Miss Sara Sampson" untergekommen sind, nachdem sie aus Liebe Hals über Kopf aus ihrem Vaterhaus geflohen sind. Seit neun Wochen harrt das Paar dort nun schon aus. Mellefont zögert die versprochene Heirat ständig hinaus, und in Sara wächst die Verzweiflung.

Regisseur Ronny Jakubaschk hat Lessings bürgerliches Trauerspiel in seiner Inszenierung am RLT in ein zeitloses, eher modernes Umfeld gestellt (Ausstattung: Anna Sörensen), das Personal des Stücks auf sechs Personen zusammengestrichen, den Gesamttext auch gekürzt - aber die Sprache Lessings gewahrt. So siezen sich die beiden Liebenden, was angesichts des Umfelds zunächst ein wenig merkwürdig anmutet, aber im Laufe der rund zweieinhalbstündigen Aufführung jede Fremdheit verliert. Die Sprache Lessings behält ihre Schönheit ebenso wie ihre Aussagekraft, weil der Zugriff des Regisseurs und das Spiel des Ensembles sich kongenial entsprechen.

Jakubaschk fokussiert das Stück auf eine Frage: Was ist Liebe? Eine Antwort kann und will er gar nicht geben, aber er zeigt die Spielarten, wie sie zu jeder Zeit anzufinden sind und auch immer anzufinden sein werden. Dafür verändert er behutsam und sehr stimmig Akzente in der Charakterzeichnung der einzelnen Figuren, setzt die Menschen in den Lessingschen Kosmos, die heute wie gestern oder morgen leben können.

Er legt einen Subtext unter die Zeilen, den insbesondere Johanna Freyja Iacono-Sembritzki (Sara), Bernhard Glose (Mellefont) und Linda Riebau (Marwood) mit Gesten, Mimik und Betonungen punktgenau umsetzen. Diese drei tragen die Aufführung, machen sie mit Joachim Berger (Sir William Sampson) und Pablo Guaneme Pinilla (Wirt) zu einer packenden und dichten Inszenierung, deren Spannung nicht einen Moment nachlässt - was die Musik von Christoph Iacono noch unterstützt.

Der unstete, impulsive und sympathische Mellefont liebt seine Sara sicherlich - und stößt sich dennoch daran, dass er sie ja auch lieben soll. Sara hingegen liebt das Bild, das sie sich von Mellefont gemacht hat. Risse übertüncht sie lieber, als dass sie seine und ihre Liebe hinterfragt - auch als sie erfährt, dass er mit seiner früheren Geliebten Marwood ein Kind hat.

Marwood hingegen liebt selbst- und kompromisslos. Zehn Jahre hat sie Mellefonts Gespielinnen akzeptiert, weil sie wusste, dass er wieder zu ihr zurückkehrt. Mit Sara ist das anders. Und so ist ihr Verrat an Mellefont eine reine Verzweiflungstat. William Sampsons vielbeschworene Vaterliebe hat dagegen mehr mit Besitzdenken zu tun. Nur Beobachter all dessen ist der Wirt, ein Menschenkenner, der gleichwohl lieber seinen Mund hält als den steten Trinkgeldfluss zu gefährden.

Dass Jakubaschk und Dramaturg Reinar Ortmann das Ende der Geschichte verändern, ist nur konsequent - und in der Idee genial. Diese Sara und dieser Mellefont können nicht einfach nur sterben und dadurch ihren Vater und Mellefonts Tochter Arabella (Mina Riebau/Angelina Sophia Wetzler) vereinen. Nein, in dieser Version finden alle Vier zu einer Familie zusammen, für viele "glückliche Tage", wie Vater Sampson bestimmt. Sara und Mellefont sehen nicht so aus, als ob die wirklich kommen ...

 

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