Ein athmosphärisch dichter Abend, der die Kerngeschichte präzise herausarbeitet.

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Irgendwann ist der Punkt erreicht, da kommt es, wie es kommen muss: Die ständige Erniedrigung mündet in pure Gewalt. Stühle fliegen durch die Luft, und Smutek tritt auf Alev selbst dann noch ein, als der schon am Boden liegt. "Spieltrieb" klingt so harmlos und ist dabei ein Stück, das unter die Haut geht, den Atem manchmal stocken lässt: Wie kann es sein, dass junge Menschen so kalt und erbarmungslos sind?

Eine Antwort bleibt Juli Zehs gleichnamiger Roman und somit auch das Drama, das Bernhard Studlar daraus gemacht hat, schuldig. Und auch Regisseur Ronny Jakubaschk versucht in seiner Inszenierung für das RLT gar nicht erst, nach Gründen zu suchen, sondern pflegt einen sezierenden Stil, der dem Baukastenprinzip des Stücks entspricht. Das gelingt auf ganzer Linie. Die Darsteller spielen reduziert und intensiv zugleich, die Umgebung (Jamil Sumiri) passt sich in ihrer kühlen Atmosphäre dem Geschehen an – und alles zusammen fügt sich zu einem knapp 100 Minuten dauernden, sehr dichten Theaterabend über die Abwesenheit von Gefühl und Moral.

Aber während Ada noch am Abgrund balanciert, hat Alev den Sprung in die Tiefe schon hinter sich. Henning Strübbe gibt diesem 18-Jährigen eine beängstigende Kälte, geboren aus einem absoluten Nichtglauben. Für ihn hält nur der Spieltrieb den Menschen mental am Leben. In Ada erkennt der Unangepasste, der von sich sagt, "mein Teufel ist das Nicht-Vorhandensein von richtig und falsch", seinen eigenen Geist und lehrt das Mädchen, dass es echte Freiheit nur im Spiel gibt. Doch dafür brauchen sie einen Gegner. An Adas nettem Schulfreund Olaf (herrlich normal: Georg Strohbach) und ihrer Mutter (so schön peinlich: Hergard Engert) perlt alles ab, sie eignen sich nicht. Sportlehrer Smutek hingegen sehr wohl. Er ist verheiratet, unsicher, glaubt an moralische Werte.

Andreas Spaniol verkörpert diesen Mann als geborenes Opfer. Er lässt sich von Ada verführen, immer freitags in der Turnhalle, während Alev fotografiert und Smutek mit der Drohung in Schach hält, die Bilder auf die Homepage der Schule zu stellen. Die für Smutek erniedrigenden Sex-Treffen setzt Jakubachk mit Distanz und Kühle in Szene, und dennoch steckt darin eine ungeheure Wucht. Fast unmerklich, dann immer deutlicher und von allen wunderbar ausgespielt, dreht sich die Stimmung. Smutek gewinnt an Kraft, Ada wird weicher, und Alev rutscht mit einer gewissen Verwunderung auf die Verliererseite.

Und fast wirkt es am Schluss so, als ob er genau das gewollt und gebraucht hat: Das Spiel ist vorbei, aber die Hoffnung zurück.

Ronny Jakubaschk hat das Stück dicht und beklemmend inszeniert.

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Jakubaschk und seine Dramaturgin Barbara Noth haben Literaturanalyse betrieben, zitieren Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, an den sich die Erzähl- und Kapitelstruktur von Juli Zehs Roman anpasst. Motive der Spieltheorie werden angesprochen und erläutert, insbesondere das Gefangenendilemma, der diabolische Zusammenhang zwischen Zusammenarbeit, Vertrauen und Verrat – ein Teufelskreis, in dem der verführte und erpresste Lehrer Smutek überfordert ist. Ada und insbesondere Alev treiben ein zynisches, kaltes Spiel mit dem Lehrer – es ist ein Strategiespiel, ein Wettkampf um die intellektuelle Hoheit im Komplexitätsmanagement, im Vorausahnen der Handlungen fremder Personen über mehrere Perioden und mehrere Ereignisse hinweg.

Sind die theoretischen, fast schon philosophischen Passagen beim Lesen des Romans eher Stolperstellen in der spannenden Handlung, so gelingt es Jakubaschk und seinem Team, gerade dieser Ernsthaftigkeit und intellektuellen Kompetenz des Stückes Spannung zu verleihen. Das intensive Spiel der Akteure und der auf kurze 100 Minuten gekürzte, geschickt collagierte und sprachlich dichte Text schaffen eine konzentrierte, beklemmende Atmosphäre. Als Zuschauer hat man das Gefühl, keinen Satz dieses eindringlichen Abends verpassen zu dürfen.
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